Laurent Denize – Global Co-CIO ODDO BHF
Die Divergenz zwischen den USA und Europa dürfte auch im Jahr 2025 das marktbestimmende Thema sein. Dahinter steht ein bereits viele Jahre anhaltender Trend, dem man sich nicht entgegenstellen konnte: der Exzeptionalismus, also die Ausnahmestellung der USA. Ende November erreichte der S&P 500 auf absoluter Basis seinen sechzigsten Tageshöchststand in diesem Jahr. Noch beachtlicher ist die relative Stärke von US-Aktien. Mit Ausnahme von 2017 haben sie seit 2009 jedes Jahr die globalen Aktienmärkte übertroffen. Inzwischen machen die USA über 70 % der globalen Indizes aus. In den letzten zehn Jahren blieb der MSCI Europe 7,7% p.a. hinter dem S&P 500 zurück. Auch bei den Gewinnen schnitt Europa fast 15 Jahre lang schlechter ab. Für 2025 erwarten Anleger und Experten mehrheitlich eine Fortsetzung der beeindruckenden Dynamik der US-Dominanz. Diesem Optimismus lässt sich nur schwer etwas entgegensetzen. Dennoch lohnt sich ein Blick darauf, was den US-Exzeptionalismus infrage stellen und Europa wieder ins Spiel bringen könnte. Was wäre, wenn 2025 der Startschuss für eine Sonderstellung Europas, einen europäischen Exzeptionalismus wäre?
Was sind die Gründe für die schwache Performance Europas?
Seit über einem Jahrzehnt hinken die europäischen Märkte den USA hinterher. Ausgebremst werden sie durch strukturelle Herausforderungen, wie geringe Produktivität, Marktfragmentierung und Abhängigkeit von der Finanzierung durch Banken. Deutschland – einst Europas Wirtschaftsmotor – kämpft nun mit Energiekrisen, chinesischer Konkurrenz und politischer Lähmung. Fassen wir die aktuell wichtigsten Punkte und Themen zusammen:
1. Nachholbedarf in puncto Produktivität: Europa investiert weniger in Forschung und Entwicklung, was Innovation und Wachstum hemmt.
2. Fragmentierte Märkte: Uneinheitliche Vorschriften verhindern Skaleneffekte und schrecken Investoren ab.
3. Energie und Wettbewerb: Hohe Energiekosten und die Konkurrenz aus China belasten Branchen wie die Chemieindustrie und die E-Mobilität stark.
Europa hinkt jedoch schon seit mehr als 15 Jahren hinterher. Nach der globalen Finanzkrise belastete die Sparpolitik das Wirtschaftswachstum in Europa und führte zu einer geringeren Nachfrage, weniger Investitionen und einem deflationären Umfeld. In den USA hingegen kurbelte eine aggressivere Fiskalpolitik das Wachstum an und vergrößerte so den Abstand zwischen den beiden Regionen.
Make Europe great again - was bräuchte es dafür?
Auch 2025 dürfte die Unsicherheit hoch bleiben. Doch die Kurse europäischer Aktien spiegeln auch pessimistische Szenarien wider. Die Erwartungen an Konjunkturimpulse sind gering, was Raum für positive Überraschungen schafft. Am Ende des Tunnels erkennen wir durchaus Aufwärtspotenzial:
• Einige Makro-Signale stehen auf Grün: Die Aussichten für die Realeinkommen der Haushalte bleiben gut und dürften den Konsum ankurbeln. Die Sparquote der Verbraucher ist hoch. Steigt ihr Vertrauen weiter, könnten sie weniger zur Seite legen und mehr ausgeben. Die Kreditkonditionen und Umfragen zur Bankenkreditvergabe zeigen deutliche Verbesserungen. Der Arbeitsmarkt bleibt stabil. Auch von der Konjunktur gab es zuletzt mehr Überraschungen.
• Lockere Geldpolitik, Disinflation und schwächerer Euro: Die Lockerung der Geldpolitik könnte in schnellerem Tempo als erwartet erfolgen, da die Inflation unter der Zielmarke der EZB liegen dürfte. Weitere Zinssenkungen der EZB dürften den Euro schwächen und der Gewinnentwicklung in Europa relativen Rückenwind verleihen.
• Überschätzung des Zollrisikos: Die Zölle dürften die aggregierten Gewinnprognosen insgesamt nicht signifikant beeinflussen. Nach unseren Schätzungen erwirtschaften europäische Unternehmen nur 6% ihres Umsatzes mit Exporten in die USA. Klammert man den Verteidigungssektor aus, sind es gar nur etwa 4%. Dieser Effekt wird von den Märkten überschätzt.
• Niedrige Erwartungen an des Gewinnwachstum: Wir erwarten für 2025 und 2026 ein Gewinnwachstum von +3/4%. Bedeutender für die Aktienrenditen im kommenden Jahr wird nach unserer Einschätzung sein, ob das Gewinnwachstum positiv bleiben wird. Wir gehen davon aus, dass dies der Fall sein wird, und ein schwächerer Euro – bislang noch nicht in den Erwartungen der Sell-Side-Analysten eingepreist – dürfte dazu beitragen.
• Niedrige Bewertungen: Europäische Aktien erscheinen attraktiv. Europa wird mit einem Abschlag von über 10% zum langfristigen Durchschnitt gehandelt. Ein wichtiger fundamentaler Treiber für steigende Bewertungen ist die Zinsentwicklung. Niedrigere Renditen sind in der Regel förderlich für steigende Bewertungen, und da sich der Zinssenkungszyklus 2025 fortsetzen dürfte, sollte dies nach unserer Einschätzung steigende Bewertungen unterstützen. Europa wird zudem (auch sektorbereinigt) mit einem deutlichen Abschlag gegenüber den USA gehandelt. Der Abschlag ist in allen Sektoren größer als je zuvor.
• Positionierung: Investoren, die ausschließlich auf steigende Kurse setzen, und Privatanleger präferieren Aktien, sind aber in Bezug auf Europa überwiegend pessimistisch gestimmt. Im laufenden Jahr flossen bislang 388 Mrd. USD in US-Aktien, aber nur 49 Mrd. USD in europäische Aktien. Die jüngste Underperformance Europas erscheint übertrieben. Zudem ist noch reichlich Kapital in Geldmarktfonds “geparkt”, das wieder investiert werden muss. Europa wird dabei für globale Investoren eine Option sein.
• Fiskalische Expansion in Deutschland: Deutschland hat den Vorteil fiskalischer Spielräume. Wenn die neue Regierung wachstumsorientiert ist und sich auf eine flexible Lösung für den Umgang mit der Schuldenbremse einigt, könnte dies die öffentlichen und privaten Investitionen ankurbeln. Ein solches Szenario würde deutsche auf den Binnenmarkt ausgerichtete Aktien beflügeln und zu einer Neubewertung führen.
• Konjunkturprogramm in China: Ein umfassendes Konjunkturprogramm in China könnte europäische Unternehmen mit China-Geschäft, insbesondere in Frankreich und Deutschland, unterstützen.
• Waffenstillstand in der Ukraine: Eine mögliche Waffenruhe zwischen der Ukraine und Russland könnte den Druck auf die Energiepreise verringern und die Risikoprämien sinken lassen und sich damit nachhaltig positiv auf europäische Vermögenswerte auswirken.
Markteinschätzungen und Positionierung
Aktien: Wir empfehlen eine leichte Präferenz von defensiven gegenüber zyklischen Werten, da wir in den kommenden Monaten mit einer moderaten Abschwächung des globalen Wachstums und niedrigeren Anleiherenditen rechnen. In Europa sehen wir einige Lichtblicke in den Sektoren Luft- und Raumfahrt (die Nachfrage übersteigt bei weitem das Angebot), Investitionsgüter (zunehmende Elektrifizierung), Immobilien (profitiert von niedrigeren Zinsen), Pharma (überbewertete regulatorische Risiken, geringe Verschuldung, starke Cashflows und attraktive Bewertungen) und Software (attraktive langfristige Treiber durch Digitalisierung und KI, defensivster Teil des Technologiesektors). Auch im Bereich der Small und Mid Caps besteht weiterhin die Chance auf selektive Outperformance, insbesondere in den USA. Wir halten weiterhin viele Small- und Mid-Cap-Aktien für unterbewertet und sehen in diesem Segment im Hinblick sowohl auf die Gewinne als auch auf die Bewertung erhebliches Aufwärtspotenzial. Vorsichtig bleiben wir hingegen in Bezug auf die Sektoren Halbleiter (schwieriges Marktumfeld, Normalisierung der Nachfrage in China, Absorbierung der jüngsten Kapazitätserweiterungen), Energie (hohes Risiko von Gewinnrevisionen), Automobil (Überangebot, Wettbewerb, Preisdruck, unklare Gewinnsituation) und Finanzen.
Staatsanleihen: Wir erwarten, dass sich das Segment 2025 über weite Strecken in einer engen Spanne bewegen wird. Phasen mit Verkaufsdruck wollen wir nutzen, um die Duration zu erhöhen. Für Positionen mit langer Duration ist Europa besser geeignet, da 10-jährige US-Anleihen zuletzt nachgegeben haben. Sowohl in Europa als auch in den USA erwarten wir eine Erholung der Laufzeitprämien. In Europa bevorzugen wir Anleihen aus den Peripherieländern und halten eine Neupositionierung in Frankreich für verfrüht.
Unternehmensanleihen: Mit Blick auf 2025 sind wir für Unternehmensanleihen insgesamt positiv gestimmt. Auf den aktuell niedrigen Niveaus zählen hier vor allem die Gesamtrenditen, weniger die Spreads. Sowohl im Investment-Grade- als auch im High-Yield-Segment ziehen wir Europa den USA vor. Wir halten an unserer starken Überzeugung für Kurzläufer fest.
Währungen: Der USD ist auf dem besten Weg, das Jahr 2024 nach zwölf Monaten mit wechselnden Narrativen mit einem Rekord abzuschließen. Wir gehen davon aus, dass die Stärke des USD anhält und er weiter bei 1,00-1,05 notiert.
Nur ein kurzfristiger Kursanstieg? US-Exzeptionalismus und "taktische" Positionierung in Europa
Der US-Exzeptionalismus bleibt das bestimmende Szenario für die nächsten Monate, und wir erwarten eine Fortsetzung der US-Aktien-Rally auf breiter Front. Entsprechend hoch sind natürlich die Bewertungen. Für europäische Anlagewerte sehen wir hingegen nur noch moderates Abwärtspotenzial: Hier könnte sich die Asymmetrie zugunsten von Europa verbessern, sobald die Zölle und die innenpolitischen Dramen, etwa in Frankreich und Deutschland, verarbeitet wurden. Mögliche Katalysatoren wären günstige Bewertungen, niedrige Erwartungen für das Gewinnwachstum, eine zurückhaltende Positionierung, ein schwächerer Euro, Frieden in der Ukraine und ein bereits eingepreister „Worst Case“. Zudem besteht die Chance, dass nach den deutschen Wahlen im ersten Quartal Bewegung in der Frage der Schuldenbremse kommen könnte. Kurzum: Europa steht auch in den kommenden Monaten (Quartalen?) vor großen Herausforderungen, es bietet aber auch Potenzial für Anleger. Durch Strukturreformen, fiskalische Flexibilität und Innovation könnte langfristiges Wachstum freigesetzt und die wirtschaftliche Lücke zu den USA geschlossen werden.
Vor diesem Hintergrund darf man Europa nicht länger ignorieren. Die Zeit zwischen den Feiertagen eignet sich gut, um über eine zumindest taktische Neupositionierung in Europa nachzudenken (Green Leadership, Verteidigung, Deutschland, Mid Caps, kurzlaufende Unternehmensanleihen ...). Für einen europäischen „Exzeptionalismus“ ist es zu früh, da solche Veränderungen Zeit brauchen. Allerdings könnte man anfangen, eine taktische Neuausrichtung zu erwägen, indem man eine untergewichtete Position in Europa glattstellt oder sich dort neu positioniert.
Wichtige Hinweise
Dieses Dokument wurde von der ODDO BHF SE nur zu Informationszwecken erstellt. Darin enthaltene Äußerungen basieren auf den Markteinschätzungen und Meinungen der Autoren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Diese können sich abhängig von den jeweiligen Marktbedingungen ändern. Weder dieses Dokument noch eine in Verbindung damit gemachte Aussage stellt ein Angebot, eine Aufforderung oder eine Empfehlung zum Erwerb oder zur Veräußerung von Finanzinstrumenten dar. Etwaig dargestellte Einzelwerte dienen nur der Illustration. Einzelne Aussagen sind weder dazu geeignet noch dazu bestimmt, eine individuelle anleger- und anlagegerechte Beratung durch hierfür qualifizierte Personen zu ersetzen. Bevor in eine Anlageklasse investiert wird, wird dringend empfohlen, sich eingehend über die Risiken zu erkundigen, denen diese Anlageklassen ausgesetzt sind, insbesondere über das Risiko von Kapitalverlusten.
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Nachrichten
Das geldpolitische Jahr endet mit den Sitzungen der großen Notenbanken kurz vor Weihnachten. Die EZB hat am Donnerstag den Leitzins – den Einlagensatz – nochmals um 25 Basispunkte auf jetzt 3,00 Prozent gesenkt.
Die Divergenz zwischen den USA und Europa dürfte auch im Jahr 2025 das marktbestimmende Thema sein. Dahinter steht ein bereits viele Jahre anhaltender Trend, dem man sich nicht entgegenstellen konnte: der Exzeptionalismus, also die Ausnahmestellung der USA. Ende November erreichte der S&P 500 auf absoluter Basis seinen sechzigsten Tageshöchststand in diesem Jahr.
Die politischen Risiken rund um den Globus haben sich im zu Ende gehenden Jahr ungewöhnlich stark gehäuft. Und auch im kommenden Jahr dürften die geopolitischen und geoökonomischen Unwägbarkeiten nicht abnehmen.