Prof. Dr. Jan Viebig Global Co-CIO ODDO BHF
Ist Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“?, sorgte sich im Sommer 2024 der Wirtschaftskolumnist Martin Wolf in einem Beitrag für die Financial Times.1 Im Wahlkampf vor der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar wird die Frage wieder aktuell. In seinem Wirtschaftsausblick vom Januar 2025 stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent im Jahr 2023 fest und für 2024 einen weiteren Rückgang um 0,2 Prozent. Wir erwarten, dass das Wachstum von Deutschland in diesem Jahr unter dem schwachen Wachstum des Euroraums von 1,0 Prozent bleiben wird. Wie schwer die Krise in Deutschland ist, lässt sich an den jüngsten Zahlen zur Industrieproduktion in Deutschland ablesen. Die preisbereinigte Produktion im produzierenden Gewerbe ist laut dem Statistischen Bundesamt (Destatis) im Dezember 2024 gegenüber dem Vormonat um 2,4 Prozent gefallen.2 Einen besonders heftigen Produktionsrückgang verzeichnete die Automobilindustrie. Sehr schwach ist auch die Produktion in energieintensiven Industrien, was nicht verwundert, da die Energiepreise in Deutschland derzeit mehr als zweimal so hoch sind wie in den USA.
Die Wachstumsschwäche Deutschlands ist struktureller Natur. Die Arbeitsproduktivität in Deutschland stagniert seit längerem. Aus ökonomischer Sicht ist der Befund eindeutig: Zur Steigerung der Wertschöpfung bedarf es Investitionen insbesondere in neue Technologien und Künstliche Intelligenz. Der Staatsanteil in Deutschland ist aus unserer Sicht genauso wie die Belastung der Unternehmen durch Steuern und Abgaben zu hoch. Zu den vor Wahlen leider ungeliebten und gerne verschwiegenen Themen gehört auch: Sozialtransfers sollten genauso wie Subventionen abgebaut werden, wenn sie Beschäftigung und Konjunktur hemmen. Im Vergleich zeigt sich auch: Die Deutschen arbeiten gemessen an der Stundenzahl zu wenig. Die stark konsumtiven Staatsausgaben sollten nach unserer Überzeugung stärker auf Investitionen in Bildung, Infrastruktur und – angesichts der geopolitischen Herausforderungen – auch auf Verteidigung ausgerichtet werden.
Heute morgen erzählte mir ein mittelständischer Unternehmer, dass die Zulassung von Fasern, die zum Beispiel in Baustoffe eingehen, in Deutschland über drei Jahren dauern kann, während vergleichbare Zulassungsverfahren in anderen Staaten wenige Wochen oder Monate in Anspruch nehmen. Solche Hinweise hört man derzeit ständig, wenn man mit Mittelständlern spricht, die in Deutschland die Mehrzahl der Arbeitskräfte beschäftigen. Die überbordende Bürokratie und verfehlte Regulierung müssen radikal reduziert werden, damit das magere deutsche Potentialwachstum, das derzeit mit 0,4 Prozent laut Sachverständigenrat nicht einmal mehr einem Drittel des historischen Wachstums hierzulande entspricht, endlich wiederbelebt wird. „Die Klage ist das Lied des Kaufmanns“ heißt es. Aber: Die berechtigten Klagen gerade des deutschen Mittelstands sollten endlich ernstgenommen werden.
Während der ökonomische Befund wie wir meinen eindeutig ausfällt, sollten wir aber auch nicht die Stärken Deutschlands vergessen. Zu den größten Stärken zählt das Bildungswesen. Fachkräfte sind in Deutschland in der Regel sehr gut ausgebildet. Eine enge Verknüpfung von Praxis und Studium hat sich besonders in den technischen und naturwissenschaftlichen Berufen bewährt. Davon profitiert auch der Mittelstand. Die rund 3,4 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland haben im Jahr 2023 laut einer Studie des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn 55,7 Prozent zur Nettowertschöpfung in der deutschen Wirtschaft beigetragen, 6 Prozent mehr als 2021.
Das deutsche Wirtschaftsmodell basiert zum großen Teil auf der Leistung seiner Ingenieure und Techniker. In Deutschland wird weiterhin insbesondere von Forschern der Fraunhofer-Gesellschaft, der Helmholtz-Gemeinschaft, der Leibniz-Gemeinschaft oder auch der Max-Planck-Gesellschaft mit großem Erfolg Grundlagenforschung betrieben, was sich auch darin zeigt, dass gleich sechs Forscher und Forscherinnen der Max-Planck-Gesellschaft zwischen 2020 und 2023 den Nobelpreis gewonnen haben.
Davon profitieren auch die deutschen Unternehmen, die laut der EU-Kommission Innovationsführer in Europa sind. 106 Unternehmen investierten im Jahr 2023 insgesamt 119 Milliarden Euro in die Forschung und Entwicklung ihrer Produkte.3 Damit liegen sie auf dem Spitzenplatz in der EU, weit vor Frankreich, das mit 50 Unternehmen und 34 Milliarden Euro auf dem zweiten Rang folgt. Wie gefragt deutsche Produkte sind, zeigt sich auch darin, dass sich die Exporte im vergangenen Jahr 2024 auf 1560 Milliarden Euro beliefen. Damit kommt die Exportwirtschaft auf rund 36 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Doch damit deutsche Produkte auf den Weltmärkten erfolgreich bleiben, muss aus unserer Sicht der Transfer zwischen Forschung und Anwendung, der Weg von der Erfindung zur Innovation, verbessert werden.
Deutschland ist – um es überspitzt zu formulieren – das Land der „hidden champions“, besonders im Mittelstand. Es ist bedauerlich, dass nicht mehr Unternehmen, die Spitzenprodukte für den Weltmarkt herstellen, an der Börse gelistet sind. Dennoch bietet der deutsche Aktienmarkt immer wieder interessante Titel: Unternehmen mit einem überzeugenden Geschäftsmodell, die führend in ihrem Bereich sind und bei maßvoller Verschuldung eine vergleichsweise hohe Eigenkapitalrendite erreichen. Auch im Aktienindex Dax sind viele Unternehmen notiert, die mit großem Erfolg in der Welt aktiv sind. Dabei profitieren sie von verlässlichen Wirtschaftsbedingungen in Deutschland und nutzen gleichzeitig höhere Wachstumsraten anderswo auf der Welt.
Vordringliche wirtschaftspolitische Aufgabe der nächsten Bundesregierung wird es unserer Überzeugung nach sein, die Unternehmen von übermäßiger Bürokratie und zu hohen Abgaben zu entlasten. Eine Abgabenquote von 39,3 Prozent für deutsche Unternehmen halten wir für zu hoch. Auch sollten Unternehmen stärker darin unterstützt werden, wieder mehr in den Produktionsstandort Deutschland zu investieren. Dafür halten wir die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur, international wettbewerbsfähige Energiepreise und verlässliche Rahmenbedingungen für unerlässlich. Laut dem Statistischen Bundesamt sind die Bruttoanlageinvestitionen der Unternehmen in jedem der vergangenen drei Jahre gesunken.4
Ungeachtet aller Kritik an den Produktionsbedingungen in Deutschland sollte nicht übersehen werden, dass Unternehmen hierzulande von einem stabilen Rechtsstaat profitieren und davon, dass sie in der EU aktiv sind, einem der größten Wirtschaftsräume der Welt. Zur Stabilität zählt auch, dass der Staat hierzulande mit Augenmaß wirtschaftet – im ersten Halbjahr 2024 ist das Finanzierungsdefizit des Staates gegenüber dem Vorjahr um 1,3 Milliarden Euro auf 38,1 Milliarden Euro gesunken und damit auf eine Defizitquote von nur 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Die Hoffnung stirbt zuletzt. Eine klare Reformagenda könnte das Wachstum wiederbeleben und zu mehr Wohlstand und Beschäftigung führen. Und genau deshalb ist es nach unserer Überzeugung aus ökonomischer Sicht erschreckend, dass die großen Parteien primär Wohltaten versprechen anstatt harter ökonomischer Reformen. Die Union liegt derzeit bei etwas über 30 Prozent, die AfD bei 20 Prozent, die SPD bei 16 Prozent und die Grünen bei 14 Prozent. Ob die FDP und das BSW den Einzug in das Parlament schaffen, ist fraglich. Aber eines erscheint sicher: Deutschland wird nach der Wahl eine Regierung bilden, die von einer Koalition aus mindestens zwei Parteien getragen wird. Eine große Koalition, die Wohltaten für unterschiedliche Klientelen bedient, könnte teuer werden. Vielleicht ist die Krise in Deutschland doch noch nicht groß genug für eine echte Reformagenda, die endlich dazu führt, dass Deutschland seine Stärken in und für Europa wieder nutzt.
1Martin Wolf: Is Germany the ‘sick man’ of Europe once again? Financial Times, 16. Juli 2024.
2Destatis, 7. Februar 2025.
3Europäische Kommission: EU Industrial R&D Investment Scoreboard 2024. Seite 18.
4Statistisches Bundesamt: Entwicklung der Investitionen in Deutschland. VGR Monitor Deutschland.
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Ist Deutschland wieder der „kranke Mann Europas“?, sorgte sich im Sommer 2024 der Wirtschaftskolumnist Martin Wolf in einem Beitrag für die Financial Times. Im Wahlkampf vor der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar wird die Frage wieder aktuell. In seinem Wirtschaftsausblick vom Januar 2025 stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) einen Rückgang des deutschen Bruttoinlandsprodukts um 0,3 Prozent im Jahr 2023 fest und für 2024 einen weiteren Rückgang um 0,2 Prozent.